Regiestatement von Matthias Koßmehl:

 

Ich bin in der Nähe von Berchtesgaden aufgewachsen. Eine Gegend die für viele Bayern ist, so wie sie es von idyllischen Postkarten und aus Filmen kennen. Internationale Urlauber kommen für ein, zwei Tage nach Berchtesgaden, um die bayerische Bergwelt zu erleben und am nächsten Tag Stationen, wie Salzburg oder Schloss Neuschwanstein anzusteuern. Berchtesgaden ist ein Paradies, in dem sie ihrem Alltag für kurze Zeit entfliehen können. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen, die sich den Ort nicht freiwillig aussuchen, sondern zufällig hier landen und oft jahrelang auf ihr Asylverfahren warten müssen. Während sie in ihrer Heimat vieles zurücklassen mussten. 

Und dann gibt es natürlich noch die Einheimischen, die sich Heimat zunächst auch nicht aussuchen können und teilweise über mehrere Generationen hier leben. 

Als Filmemacher aus der Region, war es für mich interessant zu sehen, wie sich die Umwelt, in der ich aufwuchs durch die Ankunft der Asylbewerber langsam veränderte. Dorfgemeinschaften sind, ob sie es wollen oder nicht, auf einmal mit Weltgeschehen und im Zusammenhang damit oft auch mit sich selbst und ihrer eigenen Identität konfrontiert. Es entsteht ein interessantes Spannungsfeld, wo Zeitgeschehen auf Alltag, fremde auf einheimische Kultur und Massenflucht auf Massentourismus trifft. 

Als ich in der Zeitung von einem Gasthaus las, in dem ganz in meiner Nähe Asylbewerber untergebracht wurden, habe ich meine Recherche begonnen. Mit den steigenden Flüchtlingszahlen suchte die Regierung händeringend nach Unterkünften und fand diese oft in älteren Gaststätten, die sich schnell und unkompliziert umfunktionieren ließen. Was gerade in Berchtesgaden und Bayern übrigens schon einmal der Fall war. Als tausende DDR-Flüchtlinge nach dem Mauerfall nach Bayern kamen und man Hotels zu Flüchtlingsunterkünften für damals Innerdeutsche Flüchtlinge machte. Ursel, eine der Protagonistinnen, ist eine von ihnen. Damals, wie heute musste alles ganz schnell gehen, so dass in vielen Orten die Bevölkerung über Nacht vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, was nicht selten zu großen Widerständen und Protesten der Bevölkerung führte. 

Mit dem Café Waldluft fand ich einen einzigartigen Ort. Die Besitzerin eine herzliche Wirtin, die von 35 Männern „Mama Flora“ genannt wird, beeindruckte mich. Und während ich den Ort mit seinen fremden Besuchern und eigenartigen Begegnungen entdeckte, entdeckte ich auch mehr und mehr eine Art Utopie. In all den Diskussionen über den Zustrom der Flüchtlinge scheint die Frage nach der Situationsbewältigung und der Integration eine schier unlösbare Herausforderung. Viele Menschen begegnen dem mit immer mehr Angst und Unsicherheit. Jedoch an einen Ort zu kommen, der zeigt, wie einfach es manchmal sein kann und welch unkonventionellen Wege Menschen jenseits jedweder Politik finden, hat mir imponiert. 

Aber hier kommt noch mehr zusammen. Denn das Hotel hatte bis dato auch eine bewegte Geschichte hinter sich. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut und beherbergte damals die ersten Touristen Berchtesgadens. Der frühere Eigentümer des Café Waldluft, der damalige Bürgermeister, floh mit seinen Kindern vor den Nazis nach Amerika. Flora’s Schwiegervater hingegen wurde zur selben Zeit von den Nationalsozialisten vom Obersalzberg vertrieben, als Hitler den Berg zum Führer-Hauptquartier ausbauen ließ. Die Bewohner des Obersalzberg wurden dabei zwangsumgesiedelt. Peter Kurz kaufte daraufhin das Café Waldluft. 

Im späteren Kriegsverlauf war das Café Waldluft dann schon einmal Zufluchtsort, nämlich für Kinder aus der Kinderlandverschickung, um die sich die Familie Kurz kümmerte. Berchtesgaden, wie es von den Nazis als Platz ihrer arischen Propaganda benutzt wurde, steht heute für eine dunkle Periode der Geschichte. Und wenn Flüchtlinge nun vor Diktatoren und Krieg fliehen, vergessen viele Menschen die Situation in Europa vor nicht allzu langer Zeit.

Am Ende fand ich mit dem Café Waldluft einen Ort und Protagonisten, die ich gerade für unsere Zeit so besonders finde: Einen Mikrokosmos, eine Utopie, in der die Komplexität der Weltpolitik für einen Moment der Menschlichkeit weicht.